Frage der Verantwortung
Die Bewältigung der Corona-Krise ist eine enorme Herausforderung – für den Staat und für die Menschen. Daraus sollte man Konsequenzen für die Zukunft ziehen.–
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Corona ist ein Lehrstück und eine Tragödie: individuell, gesellschaftlich, kulturell, politisch und wirtschaftlich. Eine Herausforderung, die jeden Menschen auf irgendeine Art an Grenzen bringt: psychisch, mental, familiär und ökonomisch. Auf eine spezielle Weise erleben wir, was die Einschränkung unserer Freiheiten für uns bedeutet. Wir fühlen uns fremdbestimmt, viele sonst »normale« Dinge sind nicht mehrmöglich. Beruflich: Das Treffen mit Kollegen und Kolleginnen ist extrem reduziert und digital, Homeoffice, keine Weihnachtsfeier, keine Geschäftsessen, Messen oder Live-Veranstaltungen. Privat: Homeschooling, keine Treffen von Freunden, keine Partys, kein Konzert, kein Kinobesuch, kein Fußball, keine Sauna – vielleicht sogar Corona-Erkrankungen
im engeren persönlichen Umfeld.
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Ein Schuldiger wird gesucht
Über alle Kommunikationskanäle hinweg wird gemeckert, was das Zeug hält. Schließlich braucht es einen »Schuldigen«. Aber gegen wen kann sich der Unmut hier richten? Macht es Sinn, ein Virus anzuklagen? Oder ist Corona höhere Gewalt? In der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder natürliche Katastrophen, klimatische Extremphasen, Hungersnöte oder Epidemien, die Hunderttausende oder Millionen Menschen dahinrafften, denken wir nur an die Spanische Grippe vor rund hundert Jahren mit geschätzt 50 Millionen Toten. Als »natürliche Katastrophe« lässt sich auch Corona einordnen. Doch zumindest wir Westeuropäer haben uns seit den 1950er Jahren weitgehend in der Komfortzone unserer Zivilisation eingerichtet und uns sicher gefühlt. Hinzu kommt ein tief angelernter Technik-Glaube. Verhaltensänderungen sind nicht nötig, wir entwickeln bei Problemen einfach technische Lösungen und alles wird gut.
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»Der Wert menschlicher Nähe und Zuwendung ist uns bewusster als zuvor.« (Albert Herresthal)
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Der Staat soll es richten
Reflexartig rufen wir nach dem Staat. Der soll es richten, zumindest die Probleme abfedern. Tatsächlich setzt der Sozialstaat vielfältige Instrumente und Hilfen ein, vom Kurzarbeitergeld bis hin zu Krediten und Ersatzleistungen für Umsatzausfälle für die Wirtschaft. Das ist unterm Strich sicher eine zielführende Strategie, um extreme Härten zu vermeiden. Die ersten Hilfspakete des Staates signalisierten der Bevölkerung: Wir lassen euch nicht allein. Zunächst kam die Botschaft an. Die Zustimmungswerte zu den Maßnahmen der Regierung, auch zu Einschränkungen der Freiheitsrechte, waren bis Anfang 2021 ebenso hoch wie die Zufriedenheit mit der politischen Führung. Doch die Stimmung kippt. Eine unglückliche Melange aus handwerklichen Fehlern der Regierung, einer massiven Corona-Müdigkeit der Bevölkerung und den daraus erwachsenden psychischen Langzeitschäden in Verbindung mit handfesten Skandalen von Abgeordneten des Bundestages (Masken-Provisions-Affäre) schafft
zunehmend Distanz zwischen Staat und Volk. Verstärkt wird diese Entwicklung durch eine skandalisierende Berichterstattung in manchen Medien und in vielen sozialen Netzwerken. Über die richtige Impfreihenfolge gibt es ebenso Neiddebatten wie um die Frage künftiger Privilegien für Geimpfte. So braut sich im Frühjahr 2021 in unserer Gesellschaft eine zunehmend explosive Mischung zusammen. Eine in der deutschen Seele latente Opferhaltung macht sich breit. Die Suche nach Sündenböcken hat Hochkonjunktur.–
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Eigene Verantwortung
So gut es auf der einen Seite ist, dass wir einen Sozialstaat haben, der in der Krise hilft – die aktuelle Situation wirft Fragen auf zu unserem Staatsverständnis, aber auch zu unserer Eigenverantwortung. Die Corona-Krise offenbart die Erwartungshaltung weiter Teile der Bevölkerung gegenüber dem Staat. Dagegen scheint die Eigenverantwortung der Menschen oft unterentwickelt zu sein. Wenn die Zuversicht fehlt, das eigene Schicksal maßgeblich selbst zu bestimmen, machen sich Ohnmachtsgefühle breit. Die Folge sind Staatsverdrossenheit und nicht selten antidemokratische Haltungen. Staat und Individuum sind hierzulande eng miteinander verwoben. Es gibt Verantwortung des Staates gegenüber dem Einzelnen, aber entscheidend für dessen Entwicklungspotenzial und das unserer Gesellschaft ist die Eigenverantwortung. Nur, wer sein Leben selbst in die Hand nimmt, wird es aktiv gestalten können – trotz aller Widrigkeiten.–
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Wirtschaft ruft nach Staat
Als Unternehmer ist uns eine eigenverantwortliche Grundhaltung vertraut. Dennoch sind auch hier manchmal überzogene Erwartungen an den Staat festzustellen. Daran schuld sind auch Äußerungen aus der Politik beim ersten Lockdown. Da hieß es, niemand solle einen wirtschaftlichen Schaden haben und der Staat wolle alles ausgleichen. Welch eine absurde Selbstüberschätzung der Politik angesichts einer Pandemie! Wer solche Erwartungen weckt, der darf sich nicht über eine wachsende Vollkaskomentalität in der Bevölkerung wundern. Die gegenwärtige Staatsverschuldung gibt es für die Bevölkerung jedoch nicht zum Nulltarif. Da kommt sicher noch einiges auf uns zu. Dabei trifft eine Pandemie in Zeiten der Globalisierung alle Gesellschaften, Staaten und Individuen – wobei Deutschland im weltweiten Vergleich bisher noch sehr gut gefahren ist.
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Gewinn aus der Beschränkung
Der Gefahren sind wir uns bewusst, vielfältig wird darüber gesprochen und geschrieben. Etwas unterentwickelt ist bei uns noch der zweite Aspekt, die möglichen Chancen für unsere Gesellschaft zu erkennen. Denen sollten wir mehr Aufmerksamkeit schenken. Unser Alltagstrott ist aus dem Takt. Unsere ökonomische Spirale „höher – schneller – weiter“ wurde jäh unterbrochen. Teilweise erlebten wir eine Verlangsamung des Lebens. Es ließ sich auch ohne Konsumrausch leben. Vieles wird in dieser Zeit neu sortiert. Abhängigkeiten wurden offenkundig, auch, wie störanfällig unser hocheffizientes Leben ist. Der Wert menschlicher Nähe und Zuwendung ist uns bewusster als zuvor. Die Krise kann nur dann etwas Positives haben, wenn wir ihre Chancen nutzen. Das gilt privat, im familiären und zwischenmenschlichen Bereich ebenso wie im wirtschaftlichen. Hier haben wir teilweise neue Strukturen entwickelt (Digitalisierung, Flexibilisierung), die auch in Zukunft Bestand haben können.
Text: Albert Herresthal
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Hier geht es zum Originalbericht aus RadMarkt (04/2021; PDF, 2,86 MB)