Eigentlich läuft doch alles super für die Fahrradbranche: Die Nachfrage liegt auf hohem Niveau, Radfahren ist populär und hat mit der Pandemie nochmals gewonnen. Auch politisch gibt es vielerorts Rückenwind, zumindest verbal. Doch wir wissen zugleich: Entscheidend für unseren weiteren Erfolg ist die Entwicklung einer sicheren Radverkehrsinfrastruktur, damit das Radfahren bei einem gar nicht so kleinen Teil der Bevölkerung das Image einer „Risikosportart“ überwinden kann. Hierfür machen sich die Verbände der Fahrradwirtschaft stark, in engem Schulterschluss mit ADFC, VCD, der Agora Verkehrswende und anderen. Das ist richtig so und auch äußerst notwendig, denn das „politische Schlachtfeld“ Verkehrspolitik ist wahrlich kein Ponyhof: Hier sind mächtige Player aus der Mobilitätswirtschaft am Werk mit gegensätzlichen Interessen. Alle wollen natürlich nur das Beste für unsere Gesellschaft, die Mobilität und die Freiheit, aber die Begriffe Fortschritt und Nachhaltigkeit (Schlüsselworte aus dem Koalitionsvertrag) sind offensichtlich sehr dehnbar, sonst bräuchten wir nicht über Flugtaxis diskutieren – hierfür sind erste Praxistests konkret in Planung. Die Argumente für mehr Radverkehr sind vielfältig und auch einem gewissen Wandel unterworfen. Früher gab es mal einen netten Aufkleber mit dem Text „Fahrräder sind leise und stinken nicht“. Das stimmt zwar faktisch immer noch, würde aber inzwischen als etwas naiv daher kommen, denn heute gibt es ja keine verkehrspolitische Diskussion mehr ohne eine zentrale argumentative Rolle des Klimaschutzes.
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Die bisherige Verkehrspolitik der Bundesregierung hat mit dazu beigetragen, dass die CO2-Emmissionen des Verkehrssektors seit 1990 nicht zurückgegangen sind und dass es hier einen dramatischen Nachholbedarf gibt. Die Fahrradwirtschaft muss ihre Chance nutzen, das große Potenzial des Fahrrads jetzt noch stärker ins Bewusstsein der Entscheider zu bringen. Über den „Hebel Klimaschutz“ lässt sich das Thema Fahrrad aktuell erfolgreich transportieren. Im Wettbewerb der Lobbyisten werden aber auch andere Rezepte angepriesen, die meistens jedoch zu kurz greifen, z.B. das E-Auto, Hybrid-Kraftfahrzeuge, E-Fuels, Wasserstoff oder digitale Tools zur Effizienzsteigerung. Überspitzt könnte man sagen, dass die globale Klimakrise für den Radverkehr eigentlich wie gerufen kommt. Und tatsächlich, diese besondere Situation jetzt nicht zu nutzen, wäre aus Lobby-Sicht politisch und kommunikativ fahrlässig. Über Rückenwind freuen sich Radfahrende immer! Den nimmt man gerne mit. Wer weiß, wann sich der Wind wieder dreht?
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Und doch ist es riskant, wenn sich die Fahrradbranche zu stark an die Klima-Argumentation anhängt, das könnte sogar zum gefährlichen Bumerang werden. Wenn auch die Notwendigkeit wirkungsvoller und kurzfristig greifender Maßnahmen zum Klimaschutz jedem einleuchtet und das enorme Lösungspotenzial des Fahrrads auf der Hand liegt – wäre die Branche politisch einflussreicher, dann wären wir schon weiter. Tatsächlich sind wir aber immer noch in der Phase des Appellierens: Schaut her, wir haben doch so überzeugende Argumente, macht endlich Dampf! Auch der ansonsten gut aufgestellte ADFC-Bundesverband schickt fast flehentlich eine Forderung, Empfehlung oder Mahnung nach der anderen an die Regierung. Bisher ohne durchgreifenden Effekt. Der Klimaschutz kann sich derzeit auf allen Politikfeldern vor Freunden kaum retten. Die Konkurrenz drängelt sich bei diesem Thema und andere Branchen sind zum Teil wirkmächtiger. Zudem spricht die „Verliebtheit“ politischer Kreise in das, was sich als „Innovation“ verkaufen lässt, eher für skurrile, neue Phantasien als für den „guten alten Radverkehr“, der – mit Ausnahme der E-Bikes – als weniger innovativ wahrgenommen wird. Für das Thema Lastenräder haben schon die Grünen zuletzt im Wahlkampf Prügel bezogen – so etwas bleibt psychologisch nicht ohne Wirkung. Auch Politiker sind Menschen.
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Es ist dennoch richtig, wenn die Fahrradwirtschaft bei Lösungskonzepten für den Klimaschutz den Finger hebt. Die Branche sollte ihre politische Strategie aber noch stärker daran ausrichten, was das Alleinstellungsmerkmal des Radverkehrs ausmacht: Dass das Fahrrad nämlich in sehr viel mehr Politikfeldern effiziente und kostengünstige Problemlösungen bzw. positive Effekte zu bieten hat. So ist eine Mobilitätsverlagerung zu mehr Radverkehr nicht nur für den Klimaschutz nützlich, sondern ebenso bei Stadtentwicklung, Lebensqualität, Gesundheitsschutz, Umweltschonung u.v.a. Locker ließe sich dieses Spektrum im Konkreten durchdeklinieren: Lärmschutz, Luftreinhaltung, Einsparung von Verkehrsraum, verbesserte Fitness, gesteigerte Abwehrkräfte gegen viele Zivilisationskrankheiten, Fettverbrennung, motorische Entwicklung von Kindern etc. Eine solche
Wirkungsbreite hat außer dem Zufußgehen kein anderes Verkehrskonzept zu bieten. Natürlich predigen wir diese Argumente der Politik und Öffentlichkeit gegenüber schon seit vielen Jahren, aber über den Status „nice to have“ sind wir im Bewusstsein einer Mehrheit bisher nicht hinaus gekommen, sonst wären wir heute schon weiter. Vielleicht hat sich die Fahrradwirtschaft bei der Lobbyarbeit bisher zu stark auf das Verkehrsministerium konzentriert. Auch die Ministerien für Gesundheit, Umwelt, Wirtschaft & Klimaschutz können wichtige Partner für die Branche und engagierte Unterstützer einer Mobilitätswende mit einem hohen Radverkehrsanteil sein.
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Die positive Wirkung von mehr Radverkehr lässt sich z.B. für den Gesundheitssektor mit beeindruckenden Zahlen untermauern: Gerade in der Corona-Zeit hat die Übergewichtigkeit, besonders auch bei Kindern und Jugendlichen erschreckend zugenommen. Aktuell werden rund 60% der Deutschen als fettleibig eingestuft, Tendenz deutlich steigend. Allein die direkten Kosten für Gesundheitsbehandlungen durch Adipositas lagen 2020 bei 29 Mrd. Euro. Die indirekten Kosten (Produktivitätsausfälle, Erwerbsunfähigkeit, vorzeitiges Versterben u.a.) liegen nochmals deutlich darüber. Eine günstigere und leichter umsetzbare Maßnahme als mehr Radverkehr wird es kaum geben. Was die Branche jetzt braucht ist mehr mediale Power, um ihre guten Argumente in den diversen Politikfeldern durchschlagend zu platzieren. Ja, das kostet viel Geld, aber es ist alternativlos. Das
kann man durchaus lernen von politischen Wettbewerbern, die es geschafft haben, sich trotz vergleichsweise schwacher Argumente stark und effektiv im politischen und gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern. So glaubt tatsächlich ein beachtlicher Teil der Bevölkerung, dass die Antriebswende (E-Motoren) bereits das Kernstück der Mobilitätswende darstellt. Diese Annahme reicht weit in die Politik hinein. Es bleibt für die Fahrradbranche nicht viel Zeit, hier noch für weiteren Erkenntnisgewinn bei Entscheidern zu sorgen: Radverkehrsförderung liegt im nationalen Interesse.
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Albert Herresthal (15.02.2022)
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