Alleinunfälle mit dem Fahrrad – unterschätzte Risiken
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„Radfahren – die einfachste Sache der Welt“, so denken wohl alle, die es als Kinder gelernt haben. Das geht einem in Fleisch und Blut über, diese Fähigkeit verlernt man das ganze Leben nicht mehr. Und so gehört das Radfahren – egal ob auf dem Pedelec oder traditionell ohne E-Unterstützung – für Millionen Menschen hierzulande zum Alltag dazu oder es wird für Tagesausflüge oder auf Reisen genutzt. Soweit so gut und auch so gesund! Doch es gibt eine Schattenseite: Die Anzahl der Fahrradunfälle ist hoch. Viele Menschen verletzen sich oder kommen sogar zu Tode.
Wer bei Radunfällen an die schlechte Fahrrad-Infrastruktur denkt, an die hohe Verkehrsdichte, an aggressives Verhalten, unangemessen hohe Geschwindigkeiten etc., liegt komplett richtig – aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Was die wenigsten wissen: Ein erschreckend hoher Anteil, fast jeder dritte bei einem Unfall getötete Radfahrer (30,3%), kommt ohne die Einwirkung anderer Verkehrsteilnehmender ums Leben. Das sind 2019 laut Statistischem Bundesamt 135 Menschen. Von den insgesamt 87.253 Fahrradunfällen mit Personenschaden sind 22,4 Prozent Alleinunfälle, nämlich 19.587. Außerdem ist davon auszugehen, dass es bei Alleinunfällen ohne schwer wiegende Folgen eine hohe Dunkelziffer gibt. Es lohnt sich also, diesem Unfallsegment mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
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Fahrrad-Alleinunfälle geschehen in der Regel komplett unerwartet und plötzlich. Sie geschehen oft unter völlig unspektakulären Rahmenbedingungen, die nicht als „gefährlich“ wahrgenommen werden. Kleinste Unaufmerksamkeiten können zu Alleinunfällen führen. Technische Mängel sind extrem selten die Unfallursache – vielmehr geht es in der Regel um menschliches Versagen. Bei einer Erörterung des Themas sollten drei Punkte im Vordergrund stehen: Eine Abschätzung der Dimension der Problematik von Alleinunfällen, die Betrachtung möglicher Unfallursachen sowie eine Strategie zu ihrer Vermeidung bzw. Verminderung.
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Dimension: „Alleinunfälle werden i.d.R. enorm unterschätzt und bedürfen deshalb viel größerer Beachtung“ sagt Alexander Hunger, Arbeitsbereich Mobilität beim Deutschen Institut für Urbanistik (DIfU) in Berlin. Er schätzt, dass mindestens die Hälfte aller Fahrradunfälle mit Personenschaden hierzulande Alleinunfälle seien und verweist auf eine niederländische Studie, nach der bis zu 98% aller Alleinunfälle polizeilich nicht gemeldet werden. Eine lückenlose Erfassung von Alleinunfällen ist unmöglich, weil es für Verunfallte bei leichten und mittelschweren Verletzungen meist keine Veranlassung gibt, diese Unfälle zu melden.
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Ursachen: Schauen wir zunächst auf die Datenlage. Und da wird es schon schwierig: „Es gibt keinen Forschungsstand zu den Ursachen von Alleinunfällen“ sagt Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV e. V.) und kündigt für das kommende Jahr ein eigenes Forschungsprojekt an, um den Ursachen der Alleinunfälle auf den Grund zu gehen. Das scheint äußerst sinnvoll, denn die aktuell nebulöse Situation lädt zu Spekulationen ein, welche Umstände Hauptursachen für Alleinunfälle sind. Als wahrscheinlich gilt, dass es hier ein großes Spektrum von Ursachen gibt: Von schlechter Infrastruktur über Fahrfehler, Unaufmerksamkeit, Smartphone-Nutzung bis Alkoholmissbrauch.
Vermeidung von Alleinunfällen: Ausgehend von der Annahme, dass Alleinunfälle von Radfahrenden viele unterschiedliche Ursachen haben, sollte eine Vermeidungsstrategie darin bestehen, auf sämtlichen Ebenen anzusetzen. Dies gilt umso mehr, als dass es keine verlässlichen Zahlen zu den Ursachen gibt. Die BASt hat 2016 zwei Studien herausgegeben, die zumindest Anhaltspunkte geben, da hier sicherheitsrelevante Motive, Einstellungen und Verhaltensweisen von Radfahrenden analysiert werden (M264) bzw. eine „wahrnehmungspsychologische Analyse der Radfahraufgabe“ vollzogen wird (M267). Deutlich wird hier, dass Radfahrende für die bestehenden Risiken stärker sensibilisiert werden müssen, z.B. durch Schulungen oder Trainings, um ihre Achtsamkeit auch in scheinbar völlig ungefährlichen Verkehrssituationen hoch zu halten.
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Alkohol: 2019 ereigneten sich 4,6% aller Unfälle mit Personenschaden unter Alkoholeinfluss. Die Problematik ist vielen Verkehrsteilnehmern bewusst, vor allem auch der drohende Entzug der Fahrerlaubnis. Gleichwohl gibt es in der Bevölkerung eine Mentalität, dass Drogen- bzw. Alkoholmissbrauch beim Radfahren nicht so gravierend ist und auch die Wahrscheinlichkeit von Verkehrskontrollen vergleichsweise gering. Daher ist davon auszugehen, dass Alkoholmissbrauch bei Alleinunfällen von Radfahrenden eine häufigere Unfallursache ist als im allgemeinen Durchschnitt. Hier gilt es, auch Radfahrenden die gravierenden Risiken für Leib und Leben stärker ins Bewusstsein zu bringen.
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Ablenkung: Die aktive Smartphone-Nutzung während des Radfahrens ist ein großes Risiko – und trotzdem weit verbreitet. Navigationsgeräte am Fahrradlenker ziehen ebenfalls die Aufmerksamkeit von Radfahrenden auf sich. Die Gefahr der Ablenkung ist aber auch bei gemeinsamen Fahrten mit Freunden oder – noch schlimmer – in Gruppen gegeben. Alleinunfälle geschehen hier vor allem auf dem Lande, wenn kaum mit anderen Verkehrsteilnehmern gerechnet wird und man sich „sicher“ fühlt. Die Aufmerksamkeit ist herabgesetzt und häufig zudem das Sichtfeld eingeschränkt. Und dann ist da plötzlich der Poller…
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Fahrfehler: Diese können sich auch jenseits von Alkohol oder Ablenkung ergeben, wenn das genutzte Fahrrad mit ungewohnter Technik ausgestattet ist. Das kann nicht nur auf Pedelecs bezogen werden. Auch nicht motorisierte Fahrräder können zum Risiko werden, wenn beispielsweise hochwirksame Scheibenbremsen zum Einsatz kommen – der Radfahrende bisher aber immer nur mit Felgenbremse und Rücktritt verzögert hatte. Radfahrende sollten beim Umstieg auf Fahrräder mit neuer Technik Eingewöhnungsphasen berücksichtigen oder/und ggf. an Fahrtrainings teilnehmen. Dasselbe gilt bei ungewohnten Fahrsituationen, z.B. beim touristischen Einsatz mit viel Gepäck und in hügeliger Topographie, wenn bergab hohe Geschwindigkeiten erreicht werden. Für die Sinnhaftigkeit von Fahrtrainings, wie sie vielerorts von DVW, ADFC oder Fahrradgeschäften angeboten werden, sollte verstärkt geworben werden.
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Infrastruktur: Eine schlechte Qualität von Radwegen kann zu Alleinunfällen führen, wenn z.B. Schlaglöcher, den Radweg aufbrechende Baumwurzeln, plötzlich wechselnder Belag (Schotter), rutschige Oberflächen (nasse Blätter im Herbst) oder enge Kurvenradien zu schwer beherrschbaren Situationen führen. In der Praxis bergen vielerorts auch schlecht ausgeleuchtete oder nicht ERA-konforme Radverkehrsanlagen Gefahren, die nicht so leicht erkennbar sind. Hier können also die Kommunen und Landkreise für Verbesserungen sorgen. Alexander Hunger vom DIfU fordert als Konsequenz eine „fehlerverzeihende Infrastruktur“ und verweist in diesem Zusammenhang auf einen thematischen Schwerpunkt im Fahrradportal .
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Alter und Verletzungsrisiko: Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass ältere Radfahrende überproportional viele Alleinunfälle haben. Zugleich macht eine BASt-Studie von 2016 deutlich, dass ältere Radfahrende häufiger stationär behandelt werden müssen und auch die Verletzungsschwere gravierender ist als bei jüngeren. Junge Menschen stürzen eben nicht so folgenreich wie ältere. Kopfverletzungen und äußere Verletzungen sind häufig. Bei 8% der stationären Patientinnen und Patienten werden Schädel-Hirn-Traumata festgestellt. Der Anteil an schwerwiegenden Kopfverletzungen ist bei stationär Behandelten, die keinen Helm tragen, fast zehnmal größer als bei Helmnutzern.
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Zusammenfassung:
Fahrrad-Alleinunfälle sind ein unterschätztes, aber zugleich auch schwer fassbares Problem mit hoher Dunkelziffer. Die erschreckend hohe Zahl verlangt nach einer verbesserten Datenlage, damit gezielt Gegenmaßnahmen entwickelt werden können. Auch wenn viele Alleinunfälle glimpflich verlaufen oder nur geringe Verletzungen zur Folge haben, so bleibt besonders für ältere Radfahrende das Risiko, zu Schaden zu kommen, hoch. Als häufige Ursachen sind Unachtsamkeit / Smartphonenutzung, Mängel der Infrastruktur, Alkoholmissbrauch und individuelle Fahrfehler, auch unangepasste Geschwindigkeit anzunehmen, ohne dass es hierfür genaue Daten gibt. Technische Mängel an den Fahrrädern/Pedelecs spielen nach Einschätzung von Fachleuten nur eine untergeordnete Rolle. Eine verbesserte Infrastruktur und Fahrtrainings für Ungeübte können die Risiken verringern. Hilfreich können auch Kampagnen gegen Smartphonenutzung und Alkohol am Lenker sein. Ein vermehrtes Helmtragen kann zur Verminderung der Unfallfolgen beitragen.
mobil und sicher 4/21–
Erstveröffentlichung in: „mobil und sicher“ 4/21, www.mobilundsicher.de