Bilanz des selbst ernannten „Fahrradministers“
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Ein Abgesang: Er war der dritte CSU-Verkehrsminister in Folge: Nach Peter Ramsauer und Alexander Dobrindt kam 2017 mit Andreas Scheuer wieder ein Bayer in das Amt mit dem größten Investitionsvolumen aller Bundesministerien. Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) ist ein Ministerium mit erheblichem Gestaltungspotenzial. Jahrzehntelang hatte es relativ unbeachtet die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland immer weiter ausgebaut – vor allem „die Straße“. Doch seit Energiepolitik, saubere Luft, Natur- und Klimaschutz an politischer Relevanz gewonnen haben, rückt das Verkehrsministerium stärker in den öffentlichen Fokus.
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Einiges spricht dafür, dass die Amtszeit des derzeitigen Bundesverkehrsministers mit der vor uns liegenden Bundestagswahl zu Ende gehen wird. Zu viel ist gewesen, was unter normalen Rahmenbedingungen (ohne Corona) allemal für einen Rücktritt gereicht hätte. Nehmen wir nur mal die Stichworte PKW-Maut oder StVO-Novelle oder sein Lavieren beim Dieselskandal deutscher Autokonzerne – aber auch sein vollständiges Versagen bei der CO2-Einsparung des Verkehrsbereiches. Vollmundige Ankündigungen sind eben noch keine Politik. Andreas Scheuers Popularitätswerte sind im Keller.
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Wenn im Herbst 2021 ein neuer Regierungschef oder eine Regierungschefin „Aufbruch“ und „Neuanfang“ demonstrieren will – dann dürfte Andreas Scheuer kaum zum neuen Regierungsteam gehören. Und dennoch lohnt es sich für die Fahrradbranche, sich mit seiner konkreten politischen Bilanz zu beschäftigen, weil sich daraus einiges lernen lässt. Andreas Scheuer war nämlich mit seiner politischen Strategie zum Teil durchaus erfolgreich. Und in seiner Amtszeit ist weit mehr für den Radverkehr auf den Weg gebracht worden als bei seinen Vorgängern.
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Über Andreas Scheuer herzuziehen ist relativ einfach, denn er hat selbst viel dazu beigetragen. Noch 2018 erklärte er, dass er mit dem Begriff Verkehrswende „nichts anfangen“ könne. Tempolimits auf Autobahnen sind für ihn „gegen jeden Menschenverstand“ (2019). Als zuletzt die mit Zustimmung des Bundesverkehrsministeriums (BMVI) beschlossene StVO-Novelle durch einen Formfehler seines Hauses rechtlich ungültig war, korrigierte er diesen nicht einfach, sondern nutzte die Situation dahingehend aus, die im Bußgeldkatalog vorgesehenen Sanktionen für Raser abzumildern. Diese beschlossenen Strafen seien „unverhältnismäßig“. Scheuer bekam seinen Willen, weil die Landesverkehrsminister seiner Erpressung nachgaben, um nach über einem Jahr Hängepartie endlich einen gültigen neuen Bußgeldkatalog zu bekommen. Auf der Strecke blieb hier allerdings neben der Verkehrssicherheit auch die politische Moral.
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Aber Andreas Scheuer ist eben auch DER ZWIESPÄLTIGE: Ein Mann mit zwei Gesichtern. Er ist ein Pragmatiker, der kein Problem damit hat, Kurs und Strategie zu ändern, wenn es ihm nützt. Und anders als seine Vorgänger ist Andreas Scheuer nicht beratungsresistent: So reagierte er auf sein sich verschlechterndes Image und die andauernde Kritik, er stehe beim Dieselskandal einseitig auf der Seite der Autokonzerne, mit der Offenbarung, er sei „auch Fahrradminister“. Und er ließ dem durchaus Taten folgen: Andreas Scheuer zeigte persönlich Präsenz beim Nationalen Radverkehrskongress 2019 (NRVK) in Dresden und bei etlichen Radverkehrsveranstaltungen danach. Er stellte sich mit seinen „Acht Leitzielen“ für den neuen Nationalen Radverkehrsplan 2030 beim NRVK an die Spitze der Bewegung und überraschte mit seinem auch sachlich sehr fundierten Engagement.
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Skeptiker aus der Fahrradszene hielten den „neuen Scheuer“ anfangs lediglich für einen PR-Bluff, aber tatsächlich hat sich in den letzten zwei Jahren im BMVI vieles zum Positiven verändert. Der Radverkehr wurde insgesamt aufgewertet: strukturell, personell und auch finanziell – wobei viel Geld nicht aus dem BMVI-Budget kommt, sondern aus dem „Klimapaket“ der Bundesregierung. Die StVO-Novelle ist in einigen Punkten fahrradfreundlich und an vielen weiteren Details im Verkehrsrecht wird sichtbar, dass im BMVI nun ein anderer Wind weht. Offenkundig bleibt allerdings weiterhin, dass die neue Offenheit pro Fahrrad keine Abkehr vom alten autofreundlichen Kurs bedeutet. So blockiert Scheuer z.B. weiterhin beim Thema Tempo-30 als innerörtliche Regelgeschwindigkeit.
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Den ADFC Bundesverband beeindruckte der Bundesverkehrsminister mit seiner neuen Linie seit 2019 derart, dass der fortan auf „Kuschelkurs“ mit Andreas Scheuer ging. Kritische Worte kamen vom ADFC nun kaum noch. So gut und richtig es sein mag, positive Veränderungen anzuerkennen – hier waren viele Mitstreiter aus der Fahrradszene durchaus irritiert.
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Mein Resümee: Das BMVI ist für den Radverkehr insgesamt auf einem guten Kurs. Es wurden Weichen gestellt, die auch über die Amtszeit eines Ministers hinaus wirken werden. Der von Andreas Scheuer vollzogene Strategiewechsel war das Ergebnis veränderter Rahmenbedingungen, zu denen Fahrradlobbyisten aus Verbänden und Wirtschaft, aber auch aus der Zivilgesellschaft beigetragen haben. Hinzu kam das positive gesellschaftliche und mediale Klima zu Fahrrad und E-Bikes – und hier hat Andreas Scheuer sehr gute Antennen. Es gelang den Akteuren aus der Fahrradbranche deutlich zu machen, dass sich ein Kurswechsel in Sachen Radverkehrspolitik für den Amtsinhaber auszahlen kann. Scheuer war flexibel genug, dies auch umzusetzen.
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Egal, wer nach der Bundestagswahl Verkehrsminister wird: Die Fahrradbranche muss ihr politisches Engagement weiter erhöhen, denn positive Ansätze sind noch lange keine konsequente Umsetzung. Politik braucht weiterhin Druck, völlig unabhängig davon, welche Partei den Minister stellen wird – hier möge sich niemand Illusionen machen, dass es automatisch leichter wird, wenn z.B. die Grünen die Leitung des BMVI übernehmen würden.
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Der Reformstau bleibt: Viele wichtige Fragen der künftigen Verkehrspolitik sind weiter offen, beispielsweise die einer langfristigen Finanzierung von Radverkehrsinfrastruktur durch den Bund. Auch eine grundlegende Reform des Verkehrsrechts in Deutschland ist überfällig, ein Mobilitätsgesetz könnte die grundlegenden Rahmenbedingungen setzen. Wir stehen also erst am Anfang einer Verkehrswende. Inzwischen gehört der Begriff übrigens auch zum Wortschatz von Andreas Scheuer: Zwischen 2019 und Juli 2021 gibt es nun bereits 18 Einträge auf der Website des BMVI zu den Stichworten Verkehrswende und Mobilitätswende. Geht doch!
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>>> Bericht als Download (PDF, 422k)