10 Jahre vivavelo: Von den Kongress-Anfängen zum Meilenstein der Lobbyarbeit
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Manchmal muss man Dinge, von denen man überzeugt ist, einfach wagen. Wenn die Idee dann in der Welt ist, braucht man potente Partner, die die Vision teilen, und ein starkes Team zur professionellen Umsetzung. So in etwa könnte man die Entstehung und Entwicklung des vivavelo Kongresses der Fahrradwirtschaft in Deutschland beschreiben, dessen erste Planungen auf das Jahr 2008 zurückgehen.
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Ausgangspunkt war die Analyse des VSF, dass die politische Präsenz der Fahrradbranche in der deutschen Hauptstadt seinerzeit „schlicht nicht existent“ war. Kein Verband der Branche hatte zu diesem Zeitpunkt seine Geschäftsstelle in Berlin: Der ADFC war noch in Bremen, der ZIV in Bad Soden und der VSF in Aurich. Wie sollte da politischer Einfluss und mediale Wahrnehmung für das Fahrrad aufgebaut werden?
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Aber es ging dem VSF nicht ausschließlich um Politik und Öffentlichkeitsarbeit. Es gab auch die Motivation, das Selbstbewusstsein der Branche zu stärken und ihr „Wir-Gefühl“ zu entwickeln. Beides war in den 2000er Jahren in der Szene wenig vorhanden. Man traf sich wohl auf der Eurobike oder auf den Hausmessen der Hersteller, aber immer unter dem Vertriebsfokus neuer Produkte. Ein „Identitätsgefühl“ als Fahrradwirtschaft konnte mit diesen Instrumenten allein nicht entstehen. Es gab keinen Rahmen, in dem Zielperspektiven oder Zukunftsfragen in der gebotenen Tiefe und im persönlichen Austausch diskutiert werden konnten.
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Es gab also diesen Dreiklang an Motiven – Lobbyarbeit, mediale Aufmerksamkeit und die Branche selbst – aus dem heraus der VSF das Konzept für den vivavelo Kongress entwickelte. Dabei war von vornherein klar: vivavelo musste gleich in der ersten Liga mitspielen, hochprofessionell sein und sofort beim ersten Auftritt überzeugen. Erstmal klein anzufangen und sich die Sache langsam entwickeln zu lassen, war keine Option. Hier waren also sehr ehrgeizige Ziele gesetzt.
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Natürlich war innerhalb der Fahrradbranche erstmal eine gewisse Zurückhaltung zu überwinden. Wieso sollte ausgerechnet der VSF als vergleichsweise kleiner Verband eine solche Veranstaltung initiieren? War ihm das überhaupt zuzutrauen? Würde das Konzept aufgehen? Würde die Politik uns ernst nehmen? Ging es dem VSF wirklich um die Branche als Ganzes oder standen hier Eigeninteressen im Vordergrund?
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An dieser entscheidenden Stelle zahlte sich die gute Vernetzung des VSF in alle Teile der Fahrradwirtschaft aus. So gelang es für den ersten vivavelo Kongress 2010, nicht nur den Zweirad-Industrie-Verband als „ideellen Partner“, Velobiz.de, den RadMarkt und die Brandeins als Medienpartner mit ins Boot zu holen, sondern auch über Sponsoren wie Humpert, Bohle, Winora, Lange, Biketec u.a. eine breite Verankerung in der Fahrradwirtschaft zu dokumentieren und eine Co-Finanzierung sicher zu stellen. Es konnte also losgehen!
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Nicht ganz einfach war die Suche nach einem geeigneten Veranstaltungsort für den 2-tägigen Kongress. Er sollte in Berlin zentral und in der Nähe zum Bundestag liegen und möglichst bereits nach Politik „riechen“. Durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Land Nordrhein-Westfalen im Zusammenhang mit der AGFS und dem Deutschen Fahrradpreis gelang es, die NRW-Landesvertretung nutzen zu dürfen – eine super Location, der vivavelo über all die Jahre bis heute treu geblieben ist.
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Der nächste wichtige Schritt war, geeignete Polit-Prominenz auf den Kongress zu bekommen, denn nur so ließ sich die Relevanz von vivavelo nachdrücklich vermitteln. Hier lag es auf der Hand, die Hausleitung des Bundesverkehrsministeriums einzuladen und auch prominenten Oppositionspolitiker, um auf dem Kongress eine gewisse Lebendigkeit herzustellen. Die Eröffnungsreden hielten der damalige Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesverkehrsminister, Jan Mücke, und der ehemalige Verkehrsminister Kurt Bodewig, in dessen Amtszeit die Verabschiedung des ersten Nationalen Radverkehrsplans der Bundesregierung fiel. Prominenter Teilnehmer der Podiumsdiskussion war der damalige Vorsitzende des Bundestags Verkehrsausschusses, Dr. Anton Hofreiter. Die Hauptreferenten kamen aus den Bereichen Verbände (HDE Hauptgeschäftsführer) und Wissenschaft (Zukunftsinstitut, Wissenschaftszentrum Berlin).
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Der Schlüssel zum Erfolg des vivavelo Kongresses waren aber nicht nur interessante Keynote-Speaker, sondern das Gesamtpaket aus spannenden Inputs, einem inspirierenden Rahmenprogramm und einem ausgeprägten Wohlfühlfaktor. Zum Rahmenprogramm gehörten sowohl eine geführte Radtour durch das Berliner Regierungsviertel als auch ein Besuch des Deutschen Bundestages. Im vergnüglichen Teil gab es zum Netzwerken eine Party mit Live-Musik und einigen Show-Einlagen, aber auch die Verleihung des VSF-Ethikpreises an vorbildhafte Unternehmen der Fahrradbranche.
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Das Grundkonzept des ersten vivavelo Kongresses 2010 stellte sich als Erfolgsmodell heraus, so dass die Struktur mit kleinen Anpassungen und Erweiterungen für alle weiteren Kongresse erhalten blieb: Der erste Tag mit politischen Schwerpunkt und der zweite Tag mit den Zukunftsthemen der Fahrradbranche. Formate waren u.a. Vorträge, Workshops, Podiumsdiskussionen und eine Ausstellung im Atrium der Landesvertretung. Den Kongressabschluss bildete jeweils ein politischer Forderungskatalog der Fahrradwirtschaft an die Politik.
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Wer alle bisherigen vivavelo Kongresse reflektiert, der oder dem fallen sicher Highlights ein wie die engagierte Debatte mit Verantwortlichen der Stiftung Warentest rund um Fahrradtests, die Auftritte von Prof. Klaus Töpfer, Mikael Colville-Andersen (Kopenhagen), Stefan Gössling (Universität Lund), dem Verkehrsausschussvorsitzenden Cem Özdemir oder Verkehrsminister Winfried Hermann (BW).
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Neben den verschiedenen Programmhöhepunkten bot vivavelo aber auch einen guten Rahmen, um neue Projekte und Initiativen auf den Weg zu bringen. So fand beispielsweise ein erstes Vorbereitungstreffen für die Gründung des Parlamentskreises Fahrrad im Deutschen Bundestag beim vivavelo Kongress 2018 statt. Im Herbst desselben Jahres wurde der Parlamentskreis, in dem alle Parteien vertreten sind, dann bei einem gemeinsamen Parlamentarischen Abend von VSF, ZIV und ADFC offiziell gegründet.
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Apropos ADFC: vivavelo war auch die Bühne, um der Politik den Schulterschluss von Fahrradwirtschaft und Verbraucherverband zu dokumentieren und deutlich zu machen, dass beide an einem Strang ziehen, wenn es um Radverkehrsförderung und die Mobilitätswende geht. Mehrmals beeindruckte der 2011 ins Amt gekommene ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork mit seiner engagierten und pointierten Performance auf der vivavelo-Bühne. Zugleich unterstützte die Fahrradwirtschaft per Beschluss beim Kongress 2014 das verkehrspolitische Grundsatzprogramm des ADFC.
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Der vivavelo Kongress hat es in 10 Jahren geschafft, sich zu einem festen verkehrspolitischen Termin für die wichtigsten Akteure aus Politik und Fahrradbranche zu entwickeln. Und wäre nicht Corona „dazwischen gekommen“, dann hätte 2010 der amtierende Bundesverkehrsminister den vivavelo Kongress der Deutschen Fahrradwirtschaft persönlich eröffnet. Hätte. Hätte. Fahrradkette. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Für die Person des Ministers vielleicht schon, denn vor dem nächsten vivavelo Kongress 2022 liegen ja noch die Bundestagswahlen im September. Wer danach auch immer der neue Bundesverkehrsminister sein mag – er oder sie sei heute bereits zum vivavelo Kongress der Deutschen Fahrradwirtschaft herzlich eingeladen!
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Albert Herresthal
Hier geht es zum Originalbericht aus vivavelomagazin 2021; (PDF, 3,91 MB)