- „Preise für Fahrräder und E-Bikes explodieren“
Meldungen dieser Art geistern aktuell durch die Medien. ZEIT ONLINE titelt „Der Preis für Fahrräder steigt und steigt“, FOCUS Online schreibt: „Darum werden E-Bikes immer teurer“ und das Online-Preisvergleichsportal Idealo konstatiert Preiserhöhungen bis zu 30% seit 2019. In anderen Medien werden die jährlichen Marktdaten des Zweirad Industrie-Verbands (ZIV) zum Fahrrad- und E-Bike-Durchschnittspreis so interpretiert, dass sich die Preise für Fahrräder binnen weniger Jahre mehr als verdoppelt haben. Schlagzeilen und Zahlen, die in den Köpfen von Kaufinteressent*innen hängen bleiben und manche*n auch abschrecken.
Worauf kommt es an?
Es ist nicht kompliziert, die Preisentwicklung von Produkten zu beziffern, die unverändert über einen längeren Zeitraum angeboten werden. Ein Paket Markenbutter ist ein Paket Butter, das Porto für einen Standardbrief bleibt Briefporto – sofern die Rezeptur bzw. Rahmenbedingungen identisch sind. Aber ein Fahrrad?
Wie werden Durchschnittspreise beim Fahrrad errechnet?
Wenn der Zweirad Industrie-Verband (ZIV) bisher jährlich einen „Durchschnittspreis“ veröffentlicht hat, dann bildete dieser Wert die Realität aller Verkäufe von motorisierten und unmotorisierten Fahrrädern eines bestimmten Jahres ab. Dieser Wert stieg beispielsweise von € 559 (2015) über € 735 (2018) auf € 1.279 für die Verkäufe im Jahr 2020. Diese Entwicklung entspricht einer Verteuerung von Fahrrädern um den Faktor 2,29 innerhalb von 5 Jahren. Sind Fahrräder in diesem Zeitraum also mehr als doppelt so teuer geworden?
Fahrrad ist nicht Butter
Für die Preisentwicklung bei Fahrrädern sind zwei Faktoren hauptverantwortlich:
1. Der Anteil von E-Bikes am Gesamtverkauf nimmt kontinuierlich zu.
2. Die Qualitätsentwicklung macht Fahrräder immer hochwertiger.
E-Bikes im Durchschnitt sind deutlich hochpreisiger als unmotorisierte Fahrräder. 2015 betrug der Anteil von E-Bikes am Gesamtverkauf aller Fahrräder knapp 12,4%. Fünf Jahre später lag der Anteil bereits mehr als dreimal so hoch, genau bei 38,7%. Allein durch diesen Umstand steigt der Durchschnittspreis von Fahrrädern erheblich.
Doch auch innerhalb der jeweiligen Gattungen werden Fahrräder/E-Bikes immer besser und damit auch hochpreisiger. Einige Stichworte hierzu: Riemenantriebe, hochwertige Schaltungen, Scheibenbremsen, pannensichere Bereifungen, immer effektivere Lichtanlagen etc.
All diese den Wert steigernden Faktoren sowie der deutlich wachsende Anteil der E-Bikes an den Gesamtverkäufen treiben den durchschnittlichen Preis für ein Fahrrad bzw. E-Bike nach oben. Eine hiervon losgelöste Netto-Preissteigerung, also die Preisentwicklung für ein identisch ausgestattetes Fahrrad, wäre die einzig seriöse Aussage. Doch leider gibt es hierzu keine belastbaren Daten.
Ergo:
Fahrräder und E-Bikes waren lange Zeit weitgehend preisstabil, aber es wurden immer mehr E-Bikes und immer höherwertig ausgestattete Fahrräder verkauft. Dies war die Ursache für die steigenden Durchschnittspreise der letzten Jahre. Aktuell steigen die Preise jedoch auch für identische Komponenten und ähnlich ausgestattete Fahrräder und E-Bikes.
- „Hersteller und Handel nutzen die hohe Nachfrage schamlos aus“
Im Zeitraum von 2014 bis 2019 wurden in Deutschland jährlich zwischen 3.9 und 4,3 Mio. Fahrräder und E-Bikes verkauft. 2020 sprang das Verkaufsvolumen auf knapp über 5 Mio. Stück. Ein ähnliches Volumen wird auch für das laufende Jahr erwartet. Wir haben also tatsächlich eine deutlich erhöhte Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen rund ums Fahrrad und E-Bike. Eine solche Situation führt in der Marktwirtschaft immer auch zu steigenden Preisen.
Wettbewerb setzt deutliche Grenzen
Was theoretisch eindeutig klingt (hohe Nachfrage = steigende Preise), wird in der Praxis von dem hohen Wettbewerbsdruck in der Fahrradbranche deutlich gedämpft. Kaum ein Wirtschaftszweig ist so individuell und kleinteilig strukturiert wie die Fahrradwirtschaft. Es gibt hierzulande unzählige Fahrrad- und Komponentenhersteller, zugleich ist der Markt auch stark international ausgerichtet, der Wettbewerb ist auf Anbieterseite erheblich. Dasselbe gilt für den Handel. In Deutschland gibt es über 5.000 stationäre Fahrradhändler, diverse fachfremde Anbieter (Baumärkte, Lebensmittelketten mit Nonfood-Sortimenten) und einen starken Online-Handel. Diese Konkurrenzsituation lässt Preiserhöhungen nur begrenzt zu.
Welche Ursachen haben die aktuellen Preissteigerungen?
Aktuell erhöhen einige Hersteller ihre Preise, meist liegt die Größenordnung bei 6-10%. Preiserhöhungen im laufenden Jahr sind extrem ungewöhnlich, weil sie schwer zu kommunizieren sind und dabei Ärger vorprogrammiert ist, z.B. wenn ein Kunde etwas bestellt hat, das Produkt aber gerade nicht lieferbar ist. Unterjährige Preiserhöhungen deuten auf sich außergewöhnlich verändernde wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ökonomische Zwänge der Hersteller hin. Einige der Gründe stehen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, andere eher weniger.
Knappe Rohstoffe
Rohstoffe wie Stahl, Aluminium und Kunststoffe, aber auch Kartonagen sind binnen Jahresfrist deutlich teurer geworden – und das hat nur begrenzt etwas mit Corona zu tun. So haben die Hersteller von Stahl schon vor der Pandemie ihre Produktionskapazitäten reduziert, um den Preis zu stabilisieren bzw. erhöhen zu können. Diese Verknappung wirkt sich nun – bei wieder steigender Nachfrage – massiv preistreibend aus (bis zu +100%). Ähnlich ist die Preissituation bei Kunststoffgranulat (+70%), Aluminium (+40%) und bei Kartonagen für Verpackungen.
Transportkosten explodieren
Ökologisch ist es sicher positiv, wenn weite Warentransporte einen angemessenen Preis erhalten. Für die Fahrradbranche, die viele Produkte auf dem Seeweg aus Fernost bezieht, ist allerdings die zeitweise Verzehnfachung der Kosten für Containertransporte ein Schock. Bei dieser Thematik spielt Corona durchaus eine Rolle, denn erstens brach die Produktion von Containern ein und zweitens waren viele Häfen über längere Zeit geschlossen oder konnten nur mit verminderter Kapazität arbeiten. Auch die Transportkosten bei Schiene und Straße sind erheblich gestiegen.
Ergo:
Massive Kostensteigerungen vor allem bei Rohstoffen und Transport führen zu Preissteigerungen der Produkte. Diese werden durch den vorhandenen Wettbewerb in der Industrie und im Handel abgemildert, kommen aber gleichwohl zum Tragen. Eine kurzfristige Entspannung ist nicht in Sicht.
- „Fahrräder und E-Bikes sind ausverkauft“
Auch wenn diese Schlagzeile in manchen Medien immer wieder gern genutzt wird – ganz so entspricht dies nicht den Tatsachen. Der Markt bietet jede Menge Fahrräder und E-Bikes. Nur nicht unbedingt jedes Modell in jeder Farbe und jeder Rahmenhöhe. Eine gewisse Flexibilität ist beim Fahrradkauf anno 2021 durchaus vonnöten. Das waren wir in unserer Konsumgesellschaft nicht mehr gewöhnt…
Die Globalisierung lässt grüßen!
Vorbei ist die Zeit, in der Fahrradhersteller eine hohe Fertigungstiefe hatten und einen Großteil der Fahrradkomponenten noch selbst produzierten. Die Einzelteile für Fahrräder und E-Bikes stammen heutzutage von spezialisierten Zulieferern aus aller Welt und vielfach aus Asien. Das macht auch Sinn, denn Spezialisten können oftmals hochwertig und kostengünstig zugleich sein. Es schafft allerdings auch Abhängigkeiten. Selbst kleinere Störungen können das gesamte Gefüge durcheinander bringen – mit weit reichenden Folgen. Dann kam Corona.
Eigentlich nichts Neues
Für Kennerinnen und Kenner der Fahrradbranche ist die aktuelle Versorgungssituation nicht substanziell neu, nur um einiges zugespitzt gegenüber früheren Jahren. Es war immer schon so, dass viele Marken zu den Herbstmessen ihre Fahrradkollektion des nächsten Jahres präsentierten und einige Monate später vom Handel bestellte Ware auslieferten. Nachbestellungen einzelner Modelle im Frühjahr oder Sommer waren dann oft bereits nicht mehr möglich – Kunden mussten auf andere, verfügbare Fahrräder ausweichen.
Corona trifft auf eine komplexe, globale Struktur
Durch die Pandemie ist das weltweit engmaschige Wirtschaftsgefüge bei Fahrrädern ins Wanken gekommen. Lieferketten wurden unterbrochen und ein Wiederanfahren ist sehr komplex und benötigt viel Zeit. Fahrräder und E-Bikes bestehen aus vielen Einzelteilen, die präzise aufeinander abgestimmt sein müssen, um optimal funktionieren zu können. Fehlt dabei ein kleines Teil, kann das gesamte Fahrrad nicht ausgeliefert werden. Ein Ausweichen auf andere, verfügbare Produkte ist für den Fahrrad- oder E-Bike-Hersteller in der Regel aus technischen Gründen nicht möglich.
Extrem lange Lieferzeiten
Je erfolgreicher spezialisierte Hersteller von Fahrradkomponenten sind, umso größer sind die Abhängigkeiten der Fahrradhersteller von diesen Zulieferern. Je bekannter Zuliefermarken sind (z.B. Shimano, Bosch oder Magura) umso wichtiger sind sie für die Zusammensetzung des Fahrrads oder E-Bikes. Und attraktive Komponenten führen zu hoher Nachfrage und immer länger werdenden Lieferzeiten. Manche Fahrradteile haben Lieferzeiten von weit über einem Jahr. Das engt die Spielräume der Fahrradhersteller extrem ein.
Ergo:
Fahrräder und E-Bikes sind keinesfalls generell ausverkauft. Kund*innen brauchen allerdings etwas mehr Flexibilität und Geduld als früher, um zu „ihrem“ Rad zu kommen.
Corona hat die Störanfälligkeit weltweit verzahnter Produktion offenkundig werden lassen. Dies führt dazu, dass Fahrradhersteller ihre Strategien überdenken und mittelfristig verstärkt Produktionskapazitäten in Europa aufbauen oder mit europäischen Partnern kooperieren.
- „Im Internet sind Fahrräder besser verfügbar“
Viel Vergnügen bei diesem Selbsterfahrungstrip! Auch im w.w.w. können einzelne Modelle nicht herbeigezaubert werden, die schlicht nicht mehr zu haben sind. Mal abgesehen davon, dass die Kunst beim Fahrradkauf für die meisten Kund*innen darin besteht, erstmal herauszufinden, welche Geometrie, welche Größe, welche Komponentenzusammenstellung zum individuellen Bedarf am besten passen: Ohne ausgiebige Probefahrt wird das schwierig. Diese Punkte sprechen klar für den Kauf im stationären Fachgeschäft. Dasselbe gilt für die perfekte Endmontage bei der Übergabe des Fahrrads und für etwaige Reklamationsansprüche. Diese werden nämlich durch eine private Eigenmontage in der Praxis erheblich eingeschränkt. Es hat also gute Gründe, dass zwei Drittel aller Fahrräder und E-Bikes im stationären Fachhandel gekauft werden.
Corona brachte Digitalisierungsschub
Früher war die Fahrradwelt weitgehend gespalten: Hier der analoge Fahrradladen vor Ort, zu dem man immer persönlich hingehen musste – dort die digitale Welt des Internethandels, mit allen virtuellen Informationsmöglichkeiten und Links, die nur das Netz bieten kann. Diese klare Trennung ist inzwischen Geschichte. Einige Fachhändler haben lange Zeit mit der Digitalisierung gefremdelt. Doch nun hat sich der stationäre Fachhandel an vielen sinnvollen Stellen mit zusätzlichen Services digitalisiert. Bereits vorher begann eine Entwicklung, dass manche Internet- und Versandhändler auch stationäre Fachgeschäfte eröffneten, um einen persönlichen Kund*innenkontakt zu ermöglichen.
Not macht erfinderisch
Während der verschiedenen Lockdown-Phasen und auch danach konnte der Fachhandel nur eingeschränkt und unter restriktiven Rahmenbedingungen seiner Aufgabe gerecht werden, die individuelle Mobilität mit dem Fahrrad aufrecht zu erhalten. Direkte Kundenkontakte mussten vermieden werden. So wurden individuelle Video-Beratungen optional ermöglicht – als Vorstufe zu späteren (kontaktlosen) Probefahrten. Im Reparaturbereich wurden Hol- und Bring-Services eingeführt bzw. ausgeweitet. Um zu vermeiden, dass im Fachgeschäft viele Menschen gleichzeitig aufeinander treffen, wurden Termine digital vereinbart und gesteuert. Präsenzzeiten wurden ausgeweitet.
Digitale Services im Fachhandel
Durch die Erfahrungen in der besonders kritischen Pandemie-Zeit hat sich der Fachhandel grundsätzlich für digitale Instrumente stärker geöffnet und in entsprechende Systeme investiert. Die Vorteile liegen auf beiden Seiten. Wenn individuelle Beratungstermine gut geplant werden können, lassen sich Wartezeiten und Stress vermeiden. Gespräche können in einer konzentrierten Atmosphäre und ohne Ablenkung stattfinden – egal ob per Video oder jetzt auch wieder vermehrt im Ladengeschäft. Auch die digitale Buchungsmöglichkeit von Reparaturterminen via Internet ist ein Gewinn für alle, denn sie ermöglicht eine bessere Planbarkeit und kürzere Reparaturzeiten. Viele der digitalen Services werden von den Fachgeschäften nun dauerhaft angeboten, weil sie sich bewährt haben.
Ergo:
Dass Fahrräder im Internet grundsätzlich besser verfügbar seien als im stationären Fachhandel, ist eine Illusion, zumal viele Fachgeschäfte sich über interne Tauschbörsen bei Kollegen einzelne Fahrräder beschaffen können. Zugleich hat Corona im Fachhandel zu einem Digitalisierungsschub geführt. Viele digitale Services dürften dauerhaft, das Angebot im Fachhandel erweitern.
- „Ein Werkstatttermin? Frühestens in acht Wochen – vielleicht“
Es ist ein Ärgernis für viele Kunden: Ist mal etwas defekt am Fahrrad oder E-Bike, bekommt man nur sehr schwer einen Reparaturtermin. Dabei ist man auf die Fahrradmobilität angewiesen, braucht sein Fahrzeug täglich für den Weg zur Arbeit, zur Schule, zur Kita, zum Einkaufen, für Besuche. Doch die Werkstätten sind überlaufen. Lange Wartezeiten sind die Folge. Was tun?
Diesmal ist Corona nicht Schuld
Klar, auch der aktuelle Boom bei Fahrrädern und E-Bikes nimmt die Fahrradwerkstätten zusätzlich in Anspruch, denn auch neue Fahrräder müssen ja fachgerecht endmontiert werden. Aber der Fachkräftemangel ist ein grundsätzliches Problem, das schon länger besteht. Es kann auch nicht kurzfristig gelöst werden, denn Qualifizierung und Ausbildung dauern einige Jahre. Insgesamt gibt es über 80 verschiedene Berufe in der Fahrradbranche – über 30 davon mit handwerklichem Bezug.
Auch hier: Fachkräftemangel
Wir kennen das aus vielen Bereichen: Einen guten Handwerker zu bekommen, ist gar nicht so einfach und oft mit langen Wartezeiten verbunden. Der Wettbewerb um gutes Personal ist groß. Für die Fahrradbranche muss es hier also um zweierlei gehen: Erstmal darum, junge Menschen für eine Qualifizierung rund um Fahrräder und E-Bikes zu begeistern, und dann darum, attraktive Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen. Damit die Berufsperspektive positiv ist, müssen auch die konkreten Rahmenbedingungen (Verdienst, Arbeitszeiten, Anerkennung) weiter verbessert werden.
Zielgruppengenaue Brancheninitiative
Wenn die Probleme bekannt sind, muss man sie „nur noch“ angehen. Bereits vor einigen Jahren hat der Branchenverband VSF e.V. die Initiative ergriffen, Unternehmen und Verbände an einen Tisch zu holen, um ein Konzept zu entwickeln, mehr Menschen für einen Beruf in der Fahrradwirtschaft zu begeistern. Hierzu gehört das informative Portal www.fahrrad-berufe.de. Dort erhalten Interessierte Einblicke in das breite Spektrum möglicher Berufe in der Branche – und warum es attraktiv und sinnvoll ist, sich für einen Fahrradberuf zu entscheiden.
Ergo:
Bei Werkstattleistungen übersteigt die Nachfrage zurzeit das Angebot – unabhängig von Corona. Die Fahrradbranche steuert dagegen, doch der Fachkräftemangel lässt sich nicht von heute auf morgen beseitigen. Daher ist auch weiterhin mit Engpässen zu rechnen. Regelmäßige Wartungstermine sollten langfristig vereinbart werden. Dann ist das Fahrrad zum Saisonstart auch startklar!
Quellen und ergänzende Informationen zu diesem Beitrag:
Artikel Zeit-Online
Artikel Idealo
Marktdaten ZIV
Analyse Pressedienst Fahrrad
Übersicht Fahrradhersteller Deutschland
Preisentwicklung Stahl
Preisentwicklung Aluminium
Preisentwicklung Kunststoffe
Artikel zum Fahrradboom
Fact Sheet des VSF e.V.
Albert Herresthal am 31 Juli 2021