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Über Ausgang der Bundestagswahl 2021 zu spekulieren, macht in diesen Tagen wenig Sinn, schließlich ist das Wahlverhalten der Bürger spontaner denn je und oft auch auf den letzten Metern noch von Stimmungen geleitet. Langfristige Parteienbindungen gibt es kaum mehr. Wer erinnert sich nicht an den kometenhaften Aufstieg und extrem schnellen, tiefen Fall des Kanzlerkandidaten Martin Schulz bei der letzten Wahl?
Letztlich ist die Stimmenverteilung auf die Parteien auch nicht so entscheidend. Von größerer Bedeutung für die Fahrradbranche ist die Zusammensetzung der neuen Regierung und die künftige Ausrichtung der Verkehrspolitik ab dem Herbst des Jahres. Und hier besteht tatsächlich großer Handlungsbedarf. Auch wenn in der letzten Legislaturperiode kleine Schritte in die richtige Richtung erkennbar waren – der Reformstau ist hier enorm und der künftige Verkehrsminister hat eine Mammutaufgabe vor sich, wenn er einen Paradigmenwechsel vornehmen will. Und der ist überfällig.
Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) verfügt 2021 über einen Haushalt in Höhe von 41,4 Mrd. Euro. Es ist das Ministerium mit dem größten Investitionsvolumen im Bundeshaushalt. Ein schwerer Tanker mit insgesamt rund 1.250 Mitarbeitenden an den Standorten Bonn (693), Berlin (552) und im Ausland (15). Dem BMVI sind 43 Behörden nachgeordnet. Jeder weiß, wie schwer es ist und wie lange es dauert, ein Schiff auf einen neuen Kurs zu bringen. Die Beharrungskräfte sind enorm und wirkmächtig. Einem solchen Apparat wie dem BMVI das Thema Verkehrswende nahe zu bringen ist auch für eine neue Hausleitung mit besten Absichten kein einfaches Unterfangen. Auch wenn der Minister und seine Parlamentarischen Staatssekretäre natürlich die Leitungsgewalt haben – der Geist des Hauses atmet Benzin, Diesel und Kerosin bis in die letzte Pore.
Es spricht vieles dafür, dass die neue Bundesregierung, egal wie sie sich zusammensetzt, dem Thema Klimaschutz mehr Beachtung schenken wird als die letzte, und dass dies auch den Verkehrssektor erfasst. Welche Rolle der Radverkehr in einem Verkehrswende-Konzept dann genau spielen wird, hängt allerdings auch davon ab, wie sich die Branche aufstellt und welche Angebote der Problemlösung sie der Politik macht. Dass es gute Argumente für den Radverkehr gibt, liegt auf der Hand, doch die haben Fußverkehr, Mikromobilität und ÖPNV ebenfalls. Die Politik wird hier ggf. Schwerpunkte setzen und unsere Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass der Radverkehr maximal gefördert wird. Die Branche muss sich also laut und hörbar artikulieren und professionell in die Lobbyarbeit investieren.
Wenn der Anteil des Radverkehrs im Modal Split substanziell wachsen soll, dann braucht es Verbesserungen der Rahmenbedingungen. Im Vordergrund steht hier gewiss eine sichere und komfortable Infrastruktur. Diese ist entscheidend dafür, ob Menschen überhaupt das Rad nutzen und ggf. wie häufig und intensiv. Nur wenn das Radfahren als positiv erlebt werden kann, wird der Radverkehr substanziell zunehmen und z.B. Fahrten mit dem Kfz ersetzen.
Gute Radwege sind aber nicht allein entscheidend auf dem Weg zum „Fahrradland Deutschland“. Auch rechtliche Rahmenbedingungen spielen eine wichtige Rolle. Hierbei nur an die Straßenverkehrsordnung (StVO) zu denken, greift jedoch zu kurz. Verordnungen können immer nur auf der Grundlage übergeordneter Gesetze erlassen werden. In diesem Sinne folgt die StVO dem Straßenverkehrsgesetz (StVG), dass es in Deutschland schon seit 1909 gibt. Zwar wurde es wiederholt angepasst, zuletzt im Dezember 2020, dennoch ist das StVG immer noch sehr einseitig auf die Bedürfnisse des fließenden Kfz-Verkehrs ausgerichtet. Es ist eine große Hürde auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Verkehrswende, da es stark an der quantitativen Kfz-Verkehrsleistung orientiert ist. Eine grundlegende Reform des StVG ist überfällig. So müssten hier beispielsweise Aspekte des Klima- und Umwelt- und Gesundheitsschutzes, der Vision Zero und einer menschengerechten Städteplanung verankert werden, die bislang im Gesetz überhaupt nicht vorkommen.
Eine staatliche Fehlsteuerung gibt es auch bei steuerlichen Anreizen. Der Kraftfahrzeugverkehr wird mit Milliarden Euro hoch subventioniert. Beispiele wären hier Kaufprämien für E-Autos und Hybridfahrzeuge, aber auch eine Steuergesetzgebung, die den Erwerb von Dienstwagen fördert sowie eine großzügig absetzbare Km-Pauschale von bis zu 35ct/km. Im Sinne der Verkehrswende sind dies totale Fehlanreize.
Auch wenn die Radverkehrsentwicklung eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen mit jeweils spezifischen Verantwortungsbereichen ist: Der Bundesebene kommt die zentrale Rolle zu bei den rechtlichen Rahmenbedingungen, bei den steuerlichen Impulsen, aber auch bei der finanziellen Unterstützung von Ländern und Kommunen im Hinblick auf die bauliche Radverkehrsinfrastruktur. Daher ist es durchaus interessant, wie sich die einzelnen Parteien in Sachen Radverkehr/Verkehrswende aufstellen.
Das Fahrrad in den Parteiprogrammen
Papier ist geduldig. Welchen Wert haben dann Parteiprogramme zur Bundestagswahl?
Ohne inhaltliche Bedeutung ist die Programmlänge insgesamt – hier geht die Spannweite aktuell von 66 Seiten (SPD) bis 272 (Grüne). Wichtige Themen aus Sicht der jeweiligen Partei kommen immer am Anfang. Verkehr/Mobilität steht hier bei keiner Partei – außer bei den Grünen – wirklich weit vorne. Ein weiteres, aussagekräftiges Kriterium bei der Beurteilung, wie ernst eine Partei das Thema nimmt, ist der Punkt, wie konkret, differenziert und verbindlich die Aussagen zu Mobilität und Radverkehr letztlich sind. Allgemeinplätze sind meist nur Platzhalter, um sich nicht vorwerfen lassen zu müssen, man hätte das Thema gar nicht auf dem Schirm…
Die Wahlprogramme der Parteien im Einzelnen (Reihenfolge nach aktuellen Umfragen):
CDU/CSU: Das „Programm für Stabilität und Erneuerung“ enthält nur wenige und eher unverbindliche Aussagen zum Thema Radverkehr. Im 140seitigen Programm wird das Fahrrad erstmalig auf Seite 131 in einem Nebensatz genannt.
Grüne: Mit 272 Seiten ist das Bundestagswahlprogramm 2021 der Rekordhalter beim Gesamtumfang. Das Thema „Nachhaltige Mobilität“ befindet sich gleich im 1. Kapitel, das den Titel „Lebensgrundlagen schützen“ trägt. Zum Radverkehr finden sich hier sehr konkrete Aussagen, z.B. auch das Ziel, das Straßenverkehrsrecht zugunsten des Radverkehrs zu reformieren.
SPD: Das Wahlprogramm der SPD steht unter dem Motto „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“ und umfasst 66 Seiten. Das Fahrrad wird im Abschnitt 2.2. („Zukunftsmission II: Modernstes Mobilitätssystem Europas“ an zwei Stellen kurz erwähnt, allerdings ohne substanzielle Aussagen.
FDP: Das 91seitige Wahlprogramm trägt den Titel „Nie gab es mehr zu tun“. Zum Radverkehr gibt es in einem 5-Zeiler unverbindliche Aussagen („Ziel sind mehr sichere Radwege und Radfahrstreifen, die Konflikte mit dem motorisierten Verkehr vermeiden“).
AfD: Im 207seitigen Wahlprogramm „Deutschland. Aber normal.“ kommt das Thema Mobilität und Infrastruktur an letzter Stelle und hier wird das Fahrrad nicht erwähnt.
Linke: „Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“ ist das 168 Seiten Wahlprogramm überschrieben. Traditionell liegt der Schwerpunkt bei den Linken bei der Verkehrsthematik auf dem ÖPNV, doch auch zum Radverkehr gibt es im Abschnitt „Mobilität für alle – mit weniger Verkehr“ unterstützende, differenzierte Aussagen.
Unterm Strich ist die Präsenz des Radverkehrs in den Wahlprogrammen der Parteien – vielleicht abgesehen von den Grünen – eher ernüchternd. Natürlich muss man sich hier auch fragen, wie sich die Fahrradlobby (Branchenverbände, Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft) im Vorfeld positioniert hat. An Positionspapieren und Forderungen zur Bundestagswahl hat es nicht gemangelt. Eine Abstimmung und Konzentration der Statements hätte den inhaltlich guten Beiträgen aber sicherlich noch eine bessere Wirkung verliehen.
Kommunikation der Verbände zur Bundestagswahl
Eine längerfristige Strategie war beim ADFC zu erkennen. Nach dem Nationalen Radverkehrskongress im April wurde ein Aktionsplan zur Umsetzung des neuen Nationalen Radverkehrsplans 2030 angemahnt. Im Mai wurde dieser vom ADFC im Detail präsentiert und an die nächste Bundesregierung adressiert. Mitte Juni wurden dann im Rahmen einer Parlamentarischen Veranstaltung, an der auch der Bundesverkehrsminister teilnahm, konkrete Forderungen zur Bundestagswahl 2021 formuliert.
Jenseits des ADFC stellte der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) Ende Juli seine Positionen zur Bundestagswahl vor. Auf zwölf Seiten und strukturiert in sieben Säulen werden Maßnahmen beschrieben, „faire Bedingungen für das Fahrrad“ zu schaffen und „Deutschland zu einem Fahrradstandort“ zu machen.
Am 31. Mai hatten die Verbände Bundesverband Zukunft Fahrrad (BVZF), Verbund Service und Fahrrad (VSF) und Changing Cities bereits ein „Schulterblick“-Papier mit guten Argumenten für mehr Radverkehr veröffentlicht, untermauert mit anschaulichen Infografiken. Zwei Tage später erschien dann ein Katalog von verkehrs- und wirtschaftspolitischen Forderungen an eine künftige Bundesregierung. Dieses Papier war unterzeichnet von Verbänden der Fahrradwirtschaft (BVZF, VSF, ZIV) und dem Verbraucherverband ADFC. Mitte August startete der VSF noch eine Postkartenaktion zu den politischen Forderungen.
Innerhalb weniger Wochen gab es also von verschiedenen Verbänden der Fahrradwirtschaft in unterschiedlichen Kombinationen mehrere Statements und Forderungspapiere im Hinblick auf die Bundestagswahl. Einige Forderungen waren weitgehend deckungsgleich, andere wiederum zeigten individuelle Aspekte auf. Ob die gezeigte Choreographie der Verbände politisch wirkungsvoll ist, lässt sich schwer abschätzen, sollte aber hinterfragt werden. In ersten Reaktionen tauchte jedenfalls häufiger das Wort „verwirrend“ auf.
Dabei gibt es auf der inhaltlichen Ebene durchaus gemeinsame Schwerpunkte. Die zentrale Forderung nach einem völlig neu aufgesetzten Straßenverkehrsgesetz, dass auch den Kommunen wesentlich mehr Gestaltungsraum bei der Umsetzung einräumt, findet sich sowohl in den Forderungen des ADFC zur Bundestagswahl als auch im gemeinsamen Papier von BVZF, VSF, ZIV und ADFC sowie in „sieben Säulen“ des ZIV. Auch der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) fordert ein „Bundesmobilitätsgesetz“, was in dieselbe Richtung geht, die übergeordnete Verkehrsgesetzgebung verstärkt an der nachhaltigen Mobilität zu orientieren. Die Initiative des VCD begann bereits vor einem Jahr. Sie wird u.a. auch von der Stiftung Agora Verkehrswende und dem „Bündnis sozialverträgliche Verkehrswende“ unterstützt.
Der Fokus auf den rechtlichen Rahmenbedingungen ist bemerkenswert, standen bisher doch immer Forderungen nach verbesserter Infrastruktur im Mittelpunkt. Die Erfahrung der letzten Jahre, dass es trotz vorhandener Finanzen immer wieder rechtliche Barrieren bei der Umsetzung guter Radverkehrsinfrastruktur gab, hat jedoch den Blick auf die Verkehrsgesetzgebung gelenkt.
Wie auch immer das Ergebnis der Bundestagswahl sein wird: Die Fahrradbranche muss dafür sorgen, dass möglichst viele ihrer Themen Eingang in den Koalitionsvertrag finden. Je konkreter und detaillierter, umso besser. Dafür sind die politischen Netzwerke aller Akteure zu nutzen. In der Vergangenheit hatte der ADFC hier die besten Verbindungen. Es gilt zwar als sicher, dass der Klimaschutz eine zentrale Rolle im nächsten Regierungsprogramm erhalten wird. Doch welchen Stellenwert dem Radverkehr dabei zugeschrieben wird, ist erstmal ungewiss. Schöne Worte reichen nicht mehr aus. Wir dürfen gespannt sein.
Interview mit Gero Storjohann, MdB, Mitglied des CDU/CSU-Fraktionsvorstandes, Mitglied im Verkehrsausschuss, Vorsitzender des Parlamentskreises Fahrrad.
Herresthal: Im CDU-Wahlprogramm kommt der Radverkehr erst ganz am Ende vor und das auch nur mit eher unverbindlichen Aussagen. Kämpfen Sie in Ihrer Partei allein auf weiter Flur, Herr Storjohann? Was ist von der CDU als Regierungspartei in Sachen Mobilitätswende zu erwarten?
Storjohann: Das Fahrrad wird schon im Einstiegssatz zum Thema Mobilität im Wahlprogramm genannt. Auf den nationalen Radverkehrsplan wird sehr verbindlich verwiesen. Er dient als Grundlage für eine moderne Fahrradinfrastruktur und wurde auch gemeinsame mit den Verbänden erarbeitet. Die Erfolge der letzten Wahlperiode zeigen, dass das Thema Radverkehr einen deutlichen höheren Stellenwert genießt in der Verkehrspolitik als noch vor einigen Jahren, dies wäre ohne die Unterstützung meiner Kollegen und einem engagierten Verkehrsminister nicht möglich gewesen.
Die Mobilitätswende ist in der letzten Wahlperiode bereits eingeleitet wurden. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass wir hier weiter anknüpfen. Mit einer guten Verkehrsinfrastruktur, die nachhaltig ist und uns trotzdem in unser Individualität und Flexibilität nicht einschränkt.
Herresthal: Welche konkreten Top-3 Maßnahmen zur Mobilitätswende stehen für Ihre Partei ganz oben auf der Agenda?
Storjohann: Meine persönlichen Top 3 Maßnahmen sind:
- Fahrradfreundliche Infrastruktur
- bedarfsgerechtes Grundangebot im öffentlichen Nachverkehr
- attraktive Verzahnung aller Verkehrskonzepte
Herresthal: Welchen Einfluss haben aus Ihrer Sicht die Verbände der Fahrradwirtschaft? Werden die Botschaften von der Politik gehört? Was könnte hier noch verbessert werden, um die Wirkung noch zu erhöhen?
Storjohann: Die Meinungen der großen Fahrradverbände finden bei mir seit Jahrzehnten ein offenes Ohr und ich freue mich über die stets vertrauensvolle und sehr konstruktive Zusammenarbeit. Gemeinsam konnten wir schon viel erreichen. Im Laufe der Jahre sind aber auch einige Verbände hinzugekommen. Ich denke, dass gemeinsame Interessen hier besser gebündelt werden könnten um Ziele in der Fahrradpolitik zu erreichen.
Interview mit Stefan Gelbhaar, MdB, Sprecher für Verkehr, Sprecher für Radverkehr, Obmann im Verkehrsausschuss der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.
Herresthal: Im Wahlprogramm der Grünen ist das Thema „Nachhaltige Mobilität“ prominent platziert. Doch Papier ist geduldig. Welche Rolle spielt für Sie die zivilgesellschaftliche Fahrradbewegung bei der politischen Umsetzung der Mobilitätswende?
Gelbhaar: Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen kämpfen mit uns seit Jahren für die Mobilitätswende. Ohne diese Zusammenarbeit wären wir nicht dort, wo wir heute sind. Ich habe unsere parlamentarische und die zivilgesellschaftliche Arbeit oft als Zusammenspiel – in verschiedenen Rollen, aber mit gemeinsamem Ziel – empfunden.
Beispiel Lkw-Abbiegeassistenten: Ich habe im Bundestag einen Antrag dazu eingebracht. Viele zivilgesellschaftliche Gruppen aber auch engagierte Einzelpersonen haben währenddessen Druck auf die Koalitionsfraktionen und den Verkehrsminister ausgeübt haben. Dadurch ist es gelungen, einen gemeinsamen Antrag zum Thema im Bundestag zu verabschieden. Mit zahlreichen Anfragen zum Thema, einem Gesetzentwurf, einer Beratung im Bundestagsplenum und einer öffentlichen Anhörung habe ich diesen Druck immer weiter aufrechterhalten. Viele zivilgesellschaftliche Akteure haben diesen Prozess parallel begleitet und verstärkt. Nach vier Jahren weiß nun nicht nur der Verkehrsminister und jede*r Abgeordnete*r was ein Lkw-Abbiegeassistent ist und warum wir diese dringend verpflichtend vorschreiben müssen, sondern auch zahlreiche Bürger*innen.
Aus der Zivilgesellschaft werden zudem immer wieder interessante neue Aspekte und Ideen an mich herangetragen, die ich – wenn ich sie teile – gerne in meine Arbeit mit aufnehme.
Herresthal: Welche konkreten Top-3 Maßnahmen zur Mobilitätswende stehen für Ihre Partei ganz oben auf der Agenda?
Gelbhaar: Mehr saubere Mobilität für alle bei weniger Verkehr, das geht nur mit vermeiden, verlagern, dekarbonisieren. Einen zentralen Punkt der Mobilitätswende möchte ich herausgreifen: die Verkehrsverlagerung. Viele kurze Strecken können zu Fuß zurückgelegt werden, viele mittellange Strecken mit Fahrrädern. 87 Prozent aller Wege sind unter 15 Kilometern. Diese Distanz ist mit E-Fahrrändern gut machbar.
Verkehrssicherheit ist dafür entscheidend. Fahrradfahrern darf keine Mutprobe sein, nirgends. Stichworte sind Tempo 30 innerorts und gute, breite Radwege.
Der Platz in Städten ist natürlich knapp. Fußgänger*innen und Radfahrer*innen wurden lange Zeit an die Straßenränder gedrängt – mehr Fahrspuren, mehr Parkplätze. Immer breitere Autos bekommen noch immer mehr Platz. Besser ist es, die Straßen von außen nach innen zu planen, als Aufenthalts- und Wohnorte betrachten. Kommunen brauchen dafür mehr rechtlichen Spielraum, um beispielsweise Parkraumanagement, Zebrastreifen, Radstreifen und Fahrradstraßen leicht und schnell zu initiieren. Schließlich muss die umweltfreundliche Mobilität vernetzt werden, damit die Menschen wählen können, etwa Rad und Bahn zu kombinieren. Dazu brauchen wir sichere Fahrradparkhäuser und Abstellanlagen. Das muss in der nächsten Legislatur alles ernsthaft und zügig angegangen werden.
Herresthal: Welchen Einfluss haben aus Ihrer Sicht die Verbände der Fahrradwirtschaft? Werden die Botschaften von der Politik gehört? Was könnte hier noch verbessert werden, um die Wirkung noch zu erhöhen?
Gelbhaar: Die Fahrradwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren besser organisiert. Das ist gut so. Umweltfreundliche Mobilität muss im politischen Berlin vertreten sein, die Interessen müssen klar und deutlich formuliert werden, Informationen zu Entwicklungen rasch bekannt gemacht werden. Als verkehrs- und fahrradpolitischer Sprecher meiner Fraktion habe ich die Fahrradwirtschaft im Blick. Inwiefern die Botschaften der Fahrradwirtschaft bei „der Politik“ als Ganzes gehört werden, nun, das Herz des amtierenden Verkehrsministers scheint mir jedenfalls doch weiter vor allem für die PKW-Branche zu schlagen. Regelmäßige, knackige Berichte zur Entwicklung der Branche, neue Entwicklungen, Beschäftigtenzahlen gehören publiziert – auch über die politische Szene hinaus.
Der Artikel erschien im Velobiz Magazin 09/2021 >>> Bericht als Download (PDF, 2,1 MB)