„Fahrradboom in Deutschland“ – „Die Verkehrswende kommt“ – „Radverkehr im Aufwind“: Sprüche dieser Art hört und liest man allerorten, besonders wenn es um die verdichteten Ballungsräume geht. Hat das Fahrrad nun endlich – mehr als 200 Jahre nach seiner Erfindung durch Karl Drais – den Durchbruch erreicht? Ist jetzt die Mobilitätswende mit dem Fahrrad als zentralem Element bereits unaufhaltsam in Deutschland auf der Siegerstraße?
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So schön das wäre, nicht nur für die Fahrradbranche: Wir sollten uns nicht zu früh freuen, auch wenn es einige positive Indikatoren für einen zunehmenden Wandel des Denkens in Sachen Verkehrspolitik gibt. Es gibt aber zwei einflussreiche Gegenströmungen, die nicht zu unterschätzen sind. Da ist einmal das, was man die Beharrungskräfte des bestehenden Systems nennen kann. Und dann organisiert sich mittlerweile auch politischer Gegenwind, der häufig aus dem rechtspopulistischen Milieu kommt und den wir politisch nicht unterschätzen sollten.
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Die Verkehrswende ist in aller Munde, auch bei vielen Verantwortlichen in den Kommunen. In den meisten Parteiprogrammen liest man Fortschrittliches zur künftigen Mobilität in Deutschland. Etliche Städte haben sich Großes vorgenommen und Verkehrskonzepte beschlossen, in denen der Fuß- und Radverkehr sowie der ÖPNV zentrale Rollen einnehmen.
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Doch Papier ist geduldig. Spätestens wenn es konkret um die Neuverteilung des öffentlichen Raumes geht, um Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr, wenn Parkplätze wegfallen sollen, mit anderen Worten: wenn es zum Schwur kommt, dann offenbart sich, wo wir wirklich stehen in Deutschland mit der Verkehrswende, nämlich erst gaaanz am Anfang. Da kommen dann die klassischen Argumente, wenn es darum geht, Veränderungen zu blockieren. Da heißt es dann „Im Prinzip gut, aber HIER sind die Maßnahmen leider nicht umsetzbar“ oder: man müsse die Bürger/Anwohner/Geschäftsinhaber „mitnehmen“ und könne nicht gegen ihren Widerstand Veränderungen „durchpeitschen“. Die Beharrungskräfte des bestehenden Status sind wirkmächtig – besonders dann, wenn die örtliche Presse einer Skandalisierung der Umgestaltung das Wort redet. Schließlich sind die Geschäftsinhaber oft auch gute Anzeigenkunden und so wird der Kampf um den Erhalt von öffentlichen Parkplätzen gerne auch mal mit dem Schreckgespenst der „sterbenden Innenstädte“ verknüpft.
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Verkehrspolitik ist ein höchst emotionales Thema. Das gilt hierzulande nicht nur für Fragen rund um ein Tempolimit für Kraftfahrzeuge, sondern es wird auch bei der Verteilung von Verkehrsflächen deutlich. Dies ruft gerne auch Populisten auf den Plan, die den „gesunden Menschenverstand“ und die „Verteidigung des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zu ihren Hauptargumenten machen. Solche Gruppierungen – ob im Netz oder anderswo – verlassen ja häufig den Konsens früherer politischer Auseinandersetzungen, bei denen man um den besten Weg stritt, aber den guten Willen des politischen Gegners nicht infrage stellte. Heutzutage wird von Rechtspopulisten dem Gegner (oder bereits Feind?) der Wille zu guten Lösungen abgesprochen, es werden „destruktive Absichten“ unterstellt und natürlich – immer wieder gerne genommen – „ideologische Verblendung“, häufig auch „Autohass“. So darf es nicht wundern, dass die Verkehrspolitik zum aufgeladenen politischen Schlachtfeld mutiert – was einer sachlichen Debatte natürlich nicht zuträglich ist.
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Dass das Thema Radverkehr im Deutschen Bundestag überhaupt breit debattiert wird und seinen Platz im Plenum findet, ist erstmal positiv und auch relativ neu. Am 17. Januar 2020 wurden in der 141. Sitzung des Deutschen Bundestags gleich zwei Anträge zur Förderung des Radverkehrs diskutiert, einer der Regierungsfraktionen und einer der Grünen. Es wurde eine denkwürdige Sitzung mit einem frontalen Angriff des verkehrspolitischen Sprechers der AfD-Fraktion, Dr. Dirk Spaniel, auf alles, was zwei Räder hat. Voller Verachtung nannte Spaniel das Fahrrad das „Verkehrsmittel der städtischen Bohème“, das „in hohem Maße unpraktisch und gefährlich“ sei. Er sprach von „Gaga-Maßnahmen“ zur Radverkehrsförderung und nannte den Kindertransport mit dem Fahrrad einen „fahrlässigen Umgang mit der Gesundheit Schutzbedürftiger“.
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Nun könnte man Reden wie die des Dr. Spaniel als skurrile Blüten mit Unterhaltungswert abtun, doch damit wird man dem Sachverhalt und der Strategie der Akteure nicht gerecht. Tatsächlich geht es den Rechtspopulisten darum, die für ihre Thesen erreichbaren Teile der Bevölkerung in einen „Kampfmodus“ zu bringen und sich als die einzig rationale Stimme gegen eine „ideologisch geprägte Verkehrspolitik“ zu profilieren. Raus aus der Defensive – Umschalten auf Angriff!
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Ganz auf dieser Linie war auch der viel beachtete Versuch in Berlin, die im Zuge der Corona-Maßnahmen entstandenen Pop-Up-Radwege juristisch zu Fall zu bringen. Der Abgeordnete Frank Scholtysek (AfD) klagte im Juni 2020 vor dem Berliner Verwaltungsgericht und bekam in erster Instanz Recht, weil – so das Gericht – die Senatsverwaltung die den Pop-Up-Radwegen zugrunde liegende „konkrete Gefahrenlage“ nicht ausreichend belegt habe. Der Fall erregte bundesweites Aufsehen. Das Gericht erklärte die Radwege für illegal. Scholtysek kommentierte das Urteil so: „Dies ist ein Sieg der individuellen Mobilität gegen den Autohass. Wir freuen uns, dass erstmals linke Ideologen von Richtern in ihre Grenzen verwiesen wurden. Jetzt müssen die rechtswidrigen Barrikaden sofort abgebaut und die Straßen wieder frei gemacht werden“.
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Zwar währte die Freude der Gegner der Pop-Up-Radwege nur bis Januar 2021, als das Berliner Oberverwaltungsgericht die Klage dann doch endgültig abwies. Gleichwohl war bei den Unterstützern einer fahrradfreundlichen Verkehrswende große Verunsicherung entstanden: Ein wenn auch nur temporärer, aber sehr öffentlichkeitswirksamer Rückschlag für den Radverkehr. Das muss man erstmal weg stecken. Der unterlegene Kläger blieb dagegen uneinsichtig und gab sich als Opfer des linken „Mainstream“. Er sprach von einem „politisch einseitigen Gefälligkeitsurteil“ und versicherte, die Berliner AfD-Fraktion werde »den Kampf gegen die rot-rot-grüne Autohasspolitik« weiterführen.
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Entscheidend für die Strategie der Populisten ist das psychologische Moment: Man definiert sich als Stimme der schweigenden Mehrheit. Dem politischen Gegner werden niederträchtige Motive unterstellt. Es geht nicht um eine Auseinandersetzung in der Sache, sondern um den Kampf der politischen Milieus: „Gesunder Menschenverstand“ gegen „grüne Ideologen“! Und dafür geht man mit Kampfbegriffen in die Offensive.
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Dass es Populismus auch auf höchster politischer Ebene gibt, zeigte 2020 Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer mit seiner Blockade des neuen StVO-Bußgeldkatalogs. Das hatte es in der deutschen Rechtsgeschichte zuvor noch nicht gegeben: Eine StVO-Novelle mit vielen Verbesserungen, u.a. für den Radverkehr, war nach der Verabschiedung durch den Bundesrat und der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt im April 2020 bereits rechtskräftig, als entdeckt wurde, dass das BMVI bei seiner Veröffentlichung einen Formfehler begangen hatte. Anstatt diesen Formfehler sofort zu beheben und damit Rechtswirksamkeit des zur StVO gehörigen Bußgeldkatalogs herzustellen, nutzte der Verkehrsminister die von ihm verursachte Situation dahingehend aus, die Debatte inhaltlich neu zu beleben.
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Andreas Scheuer weigerte sich, den von seinem Haus zu verantwortenden Formfehler zu korrigieren und argumentierte, die Strafen bei Geschwindigkeitsübertretungen wären „unverhältnismäßig“. Tatsächlich sollten Raser, die die erlaubte Höchstgeschwindigkeit innerorts um 21 km/h bzw. außerorts um 26km/h oder mehr überschritten, ein einmonatiges Fahrverbot erhalten. Was für viele ein wichtiger Beitrag zur Verkehrssicherheit ist, war für den Bundesverkehrsminister eine „überzogene Strafe“ getreu dem Motto: Das kann doch jedem mal passieren. Allein: Diese Debatte war abgeschlossen, die Mehrheit hatte dem neuen Bußgeldkatalog zugestimmt. Durch die über ein ganzes Jahr andauernde Hängepartie, konnten nun auch andere Gefährdungen von Verkehrsteilnehmern, z.B. das zu dichte Überholen von Radfahrenden durch Kfz nicht nach dem Bußgeldkatalog geahndet werden. Scheuer nahm dies in Kauf. Das bringt ihm Beifall von bestimmten Wählergruppen ein, aber der Preis auch für die politische Kultur ist sehr hoch, wenn von einem Bundesminister rechtsstaatliche Grundsätze schlitzohrig umgangen werden. Das Drama fand im Frühjahr 2021 auch erst dann ein Ende als Scheuer sich tatsächlich durchsetzen konnte: kein Fahrverbot.
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Kampforganisationen mit Empörungshabitus haben Hochkonjunktur. Populisten generieren sich als Opfer, sie reklamieren den Anspruch von Gerechtigkeit für sich. Das bekommt sogar der ADAC zu spüren, der einigen Autofreunden nicht engagiert genug für die „freie Fahrt für freie Bürger“ kämpft. So erhält der ADAC Konkurrenz von Rechtsaußen: Den „Automobilclub Mobil in Deutschland e.V.“. Stil und Sprache des Clubs dürfte einem aus anderen Zusammenhängen bekannt vorkommen. Hier ein Hörbeispiel: https://www.youtube.com/watch?v=LMrjBvOrqkM
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Auch wenn alle sachlichen Argumente für eine rasche Umsetzung der Mobilitätswende in Deutschland mit einer zentralen Rolle des Radverkehrs sprechen – die Branche muss sich auf zunehmenden Gegenwind einstellen. Letztlich ist dies auch Ausdruck unseres Erfolgs. Das Fahrrad ist im Kommen, die Branche wird endlich ernst genommen. Der wachsende Widerstand und die Aggressivität der Gegner sollten uns nicht verunsichern, sondern bestätigen. Es sind Rückzugsgefechte des alten Denkens – verkleidet in neuen Gewändern. Doch die Mobilitätswende wird nicht zu stoppen sein. Dabei hilft sehr, dass es stärkende Allianzen auch von außerhalb der „Rad-Blase“ gibt, angetrieben von Akteuren, die sich für Themen wie Klimaschutz, Gesundheit, Nachhaltigkeit oder Green Economy engagieren.
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Dem Radverkehr stehen gute Zeiten bevor.
Albert Herresthal
Hier geht es zum Originalbericht aus vivavelomagazin 2021; (PDF, 3,89 MB)