Dieses Jahr ist alles anders: Normalerweise wären jetzt alle im Wahlkampffieber, schließlich ist am 26. September nicht nur Bundestagswahl, sondern es wird auch das Abgeordnetenhaus in Berlin gewählt und es findet die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern statt.
Doch die klassische Wahlkampf-Stimmung mag nicht so recht aufkommen – digital ist eben nicht live. Auch wenn sich manches lockert: Corona hat unser Land immer noch im Griff und die bedrohlichen wirtschaftlichen Folgeschäden verdüstern den Himmel über Deutschland. Die Entfremdung vieler Menschen von der Politik und sogar von unserem demokratischen Gemeinwesen ist ein beunruhigendes Alarmsignal.
Wo in diesen Wochen normalerweise der engagierte, politische Wettbewerb der Parteien um die besten Zukunftskonzepte die Schlagzeilen beherrschen sollte, macht sich in diesem Jahr ein Gefühl der Lähmung breit. Zuletzt waren die Parteien zum großen Teil mit sich selbst beschäftigt. Die Kür des Kanzlerkandidaten bei der Union hat viele abgestoßen. Vertrauensbildend in die Politik war dieser Showdown nicht gerade. Auch der Streit um Spitzenämter in anderen Parteien macht Politik nicht attraktiver. Und: Die Personalisierung von Politik lenkt von den wichtigen Themen ab.
Die inhaltliche Debatte kommt erst langsam in Gang. Manchmal wirkt sie eher bemüht als von innerer Überzeugung angetrieben. Dabei gibt es eigentlich viel zu besprechen für Deutschland. Auf die politische Agenda gehören: Die Gefährdung unserer Demokratie durch den Rechtpopulismus, der Vertrauensverlust von Teilen der Bevölkerung in die Politik und den Rechtsstaat, die soziale Spaltung des Landes, die wirtschaftliche Krise, die in die Höhe geschossene Staatsverschuldung, aber auch außenpolitische und ökologische Themen.–
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Auch wenn es momentan nicht ganz einfach ist: Entscheidend ist, dass wir an die großen Debatten der „Vor-Corona-Zeit“ anknüpfen, denn die Pandemie hat nicht ein einziges Problem nachhaltig gelöst, im Gegenteil: Der Klimawandel ist weiterhin die weltweit grundlegendste Bedrohung für diese und nachfolgende Generationen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem jüngsten Urteil zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung eindrucksvoll unterstrichen. Für uns als Fahrradbranche ist der Klimaschutz eng verknüpft mit der künftigen Verkehrspolitik in Deutschland und der notwendigen Mobilitätswende. Daher kommt es jetzt darauf an, dass es der Fahrradwirtschaft gelingt, hier ein erfolgreiches Agendasetting zu betreiben und unsere Themen prominent und medial zu präsentieren.–
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Fahrräder und Pedelecs gehören unbestritten zu den „Krisengewinnern“ der Corona-Zeit. Damit diese vom Verbraucher ausgehende positive Entwicklung auch politisch gestützt wird, müssen die Verbände der Fahrradwirtschaft gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen eine Strategie entwickeln, die der Mobilitätswende mit einer starken Stellung des Radverkehrs zu einem baldigen Durchbruch verhilft. Die wichtigste politische Aufgabe der Branche und ihrer Partner ist es nun, dem Thema Radverkehr als Teil der Mobilitätswende mehr Relevanz zu geben. Die entscheidenden Weichenstellungen müssen in der vor uns liegenden, neuen Legislaturperiode angegangen werden. Doch auf welche Partner kann sich die Branche dabei stützen? Gelingt es der Fahrradwirtschaft, mit einer Stimme zu sprechen, um in der Öffentlichkeit und bei politischen Entscheidern deutlicher wahrgenommen zu werden?–
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Das Pfund, mit dem die Fahrradwirtschaft wuchern kann, ist ihre ökonomische Relevanz. Mit der wissenschaftlichen Studie des Wuppertal Instituts im Auftrag von VSF, BVZF und ZIV liegen hierfür seit Anfang des Jahres beeindruckende Zahlen vor. Mit diesen Fakten, 281.000 Arbeitsplätze und 37,7 Mrd. Euro Umsatz, kann die Branche weit verbreiteten Vorurteilen entgegenwirken. Entscheidend ist, dass diese Daten nun auch nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein dringen.–
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Ein gewichtiger Partner der Branche bei der öffentlichen Forderung nach einer Mobilitätswende, bei der der Radverkehr eine zentrale Rolle spielt, ist der Verbraucherverband ADFC und vielleicht auch der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD). Dass der ADFC nach dem Weggang von Burkhard Stork zum ZIV allerdings immer noch ohne politische Leitfigur auskommen muss, ist im Hinblick auf die Bundestagswahl unglückliches Timing. In die Lücke springen zwar der Vorsitzende und seine Stellvertreterin. Doch lange sollte dieser Zustand möglichst nicht mehr andauern.–
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Nehmen wir den jüngst vorgestellten Nationalen Radverkehrsplan 2030 der Bundesregierung. Der ist nach allgemeiner Einschätzung eine gute Grundlage für künftige Entwicklungen – aber auch nicht mehr. Papier ist geduldig. Es braucht jetzt politischen Druck, damit seine Ziele auch erreicht werden können. Stichworte: Reform des Straßenverkehrsgesetzes und langfristige Finanzierung, vor allem aber auch Umsetzungsstrategien, damit es nicht „nur ein Plan“ bleibt. Hier müssen sich die Verkehrsverbände und die Fahrradwirtschaft klar positionieren.–
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Blicken wir in die Zukunft: Mit der Bundestagswahl am 26. September werden die politischen Karten substanziell neu gemischt. Wenn das Parlament am 8. November 2021 erstmalig tagt, werden etwa ein Drittel der Abgeordneten neu dabei sein. Sind wir darauf eingestellt? Welche Strategie verfolgen die Verbände der Fahrradbranche, diesen Abgeordneten die Themen Fahrrad und Mobilitätswende nahe zu bringen? Haben wir hier ein nachhaltiges Kommunikationskonzept, damit die neuen Bundestagsabgeordneten nicht zuerst vom VDA infiltriert werden und von dessen e-automobiler Interpretation einer Verkehrswende?–
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Das gesellschaftliche Umfeld für den Radverkehr ist günstig wie nie. Wenn Corona nun vor der Wahl etwas in den Hintergrund gerät, dann hätte die Verkehrspolitik tatsächlich gute Chancen, für die Wahlen eine relevante Bedeutung zu erlangen. Das ist tatsächlich neu: Für immer mehr Menschen ist eine klimaverträglichere Mobilität, die zugleich auch die Wohn- und Lebensqualität in unseren Städten verbessert, ein Wahl entscheidendes Thema – die Wahlerfolge der Grünen bei den letzten Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unterstreichen dies. Doch welche Partei wird in der nächsten Bundesregierung das Verkehrsressort wohl erhalten? Hierüber lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt allenfalls spekulieren.–
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Professionelle Lobbyarbeit stellt sich hier auf alle Optionen ein und pflegt den Kontakt zu allen infrage kommenden Gruppierungen. In dieser Weise sind VSF, BVZF und ZIV in Berlin auch unterwegs – und neuerdings auch einige Unternehmen der Fahrradbranche. Das ist gut so und vorausschauend. Denn letztlich kann es uns egal sein, welche Partei das Verkehrsministerium verantwortet und wer der nächste Bundesverkehrsminister wird (eine Frau ist hier aktuell nicht in Sicht). Hauptsache, die Mobilitätswende wird endlich politisch von höchster Stelle vorangetrieben. Dafür ist es jetzt allerhöchste Zeit! Die Chancen stehen nicht schlecht. Aber es braucht eben auch ein starkes Engagement der Branche.
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Albert Herresthal
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(Dieser Artikel erschien im Branchenmagazin „RadMarkt“ der BVA im Juni 2021)